Wir sind nicht alle
Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens
- Buch
- Plagemann, Johannes u.a.
- C.H. Beck, 2023. - 243 Seiten
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat westliche Selbstverständlichkeiten schwer erschüttert, schienen doch Invasionen und imperiale Landkriege in Europa ein Fall für die Geschichtsbücher. Von „Zäsuren“ oder einer „Zeitenwende“ spricht die westliche Staatengemeinschaft und forciert Sanktionen gegen den Aggressor sowie die Unterstützung der Ukraine. Dass die Staaten des Globalen Südens sich mehrheitlich nicht an diesen Sanktionen beteiligen und viele weiterhin in unterschiedlicher Form Partnerschaften mit Russland aufrechterhalten, irritiert den Westen – und sagt dabei viel über dessen eurozentrische Ignoranz aus: „Es ist keine Zeitenwende für die, die globale Krisen lange schon ganz konkret und generationenübergreifend erfahren.“ Hinzu kommt, dass viele dieser Krisen direkt oder indirekt von reichen Industriestaaten (und zugleich meist ehemaligen Kolonialmächten) verursacht seien, verweisen Johannes Plagemann und Henrik Maihack auf eine tiefsitzende Skepsis im Globalen Süden gegenüber einer westlichen Hegemonie. Die beiden deutschen Politikwissenschaftler möchten mit „Wir sind nicht alle“ daher einige Grundlagen für ein besseres Verständnis des Globalen Südens und seiner Akteur_innen liefern, verweisen dabei aber auch auf die Diffusität des Sammelbegriffs „Globaler Süden“ und halten fest, keinesfalls für die genannten sprechen zu können, aber deren Positionen und Perspektiven widergeben zu wollen. Der „Globale Süden“ erscheint im vorliegenden Band dabei nicht als homogener Block, sondern wird in seinen unterschiedlichen Kontexten und teils gegenläufigen Interessen wahrgenommen.
In vier Kapiteln skizzieren die Autoren diese komplexe Thematik und lenken das Interesse zunächst auf historische Erfahrungen des Globalen Südens, die viele Jahrhunderte von Fremdherrschaft, kontinuierlicher Ausbeutung, Marginalisierung und Instrumentalisierung geprägt gewesen seien. Die Gegenwart hingegen habe die Realität einer multipolaren Welt geschaffen, welche für südliche Länder gänzlich neue Handlungsspielräume, pragmatische Partnerschaften, Süd-Süd-Kooperationen und ein fundiertes Selbstbewusstsein bedeute. Anschließend analysieren Plagemann und Haimack, wie westliche Staaten globale Krisen hervorgerufen und wie die vorgeschlagenen Lösungsansätze oftmals ungleiche Machtverhältnisse fortgeschrieben hätten. Diese Externalisierung von Krisen in Kombination mit teils fraglicher demokratischer Legitimation und opportunistischen Bündnissen mit autokratischen Eliten im Süden sei wesentlich für die breite Skepsis gegenüber westlichen Partnern verantwortlich, schlussfolgern sie. In einem letzten Kapitel werden die zunehmende Fragmentierung der internationalen Politik und Verwerfungen in der multilateralen Institutionsarchitektur skizziert, bevor abschließend Konsequenzen für die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik diskutiert werden. Aufschlussreich und reichhaltig erzählt „Wir sind nicht alle“ von einer neuen Realität und arbeitet dabei angenehm differenziert und ohne Alarmismus. Insofern kann der Band auch als Kontrapunkt zu den zahlreichen Publikationen gelesen werden, die eine „Weltunordnung“ erkennen: „Multipolarität ist im Globalen Süden häufig dezidiert positiv besetzt, weil sie Staaten, die sich lange nur zwischen dem Westen und internationaler Isolation entscheiden konnten, Alternativen bietet. Im Westen hingegen assoziiert man mit Multipolarität Unordnung und Unvorhersehbarkeit. Eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.“