Mitleidsökonomie
- Buch
- Fabian Kessl et al. (Hrsg.)
- Beltz Juventa, 2024. - 216 Seiten.
Die Herausgeber_innen des vorliegenden Sammelbandes konstatieren eingangs, dass die ersten Jahrzehnte des neuen Jahrtausends von neuen, spendenbasierten Formen der Armutslinderung gekennzeichnet seien, die sie unter dem Begriff der „neuen Mitleidsökonomie“ fassen. Konkrete Beispiele sind etwa Lebensmitteltafeln, Kleiderausgaben oder Suppenküchen, die elementare Bedürfnisse notleidender Menschen zu stillen suchen. Diese stünden zwar in Tradition ähnlicher Strukturen der Armutslinderung oder Almosengabe seit dem Mittelalter, würden sich jedoch nicht zuletzt aufgrund des Wohlfahrtstaates in veränderten Kontexten abspielen und sich auch durch den Grad der Institutionalisierung von historischen Formen unterscheiden. So sei die Mitleidsökonomie eine spezifische Form der Gabenökonomie, die als sekundärer Warenkreislauf auch Elemente zyklischen Wirtschaftens enthalte und ebenso im Zusammenhang einer neuen Philanthropie zu sehen sei. Gleichzeitig dürfe diese Besonderheit nicht darüber hinwegtäuschen, dass Formen der Mitleidsökonomie nach wie vor an das kapitalistische Wirtschaftssystem gebunden sei und deren Logiken nicht ablegen könne. Die zivilgesellschaftliche Organisation mitleidsökonomischer Angebote bedeute darüber hinaus nicht, dass diese stets unabhängig von sozialstaatlichen Strukturen arbeiten würden – häufig erlaube erst die (auch indirekte) Förderung durch öffentliche Körperschaften deren Durchführung. Während jedoch bei sozialstaatlichen Leistungen rechtliche Regelungen, Anspruchsberechtigungen und mehr oder weniger verlässliche Kontinuitäten gebe, seien Nutzer_innen der Mitleidsökonomie auf die Loyalität von Spender_innen und Engagierten angewiesen und unterliegen deren Entscheidungen: „Die Etablierung der neuen Mitleidsökonomie verweist aus einer wohlfahrtsstaatlichen Perspektive auf eine andauernde De- und Re-Regulation des Sozialen und damit auch auf eine Verschiebung des ›Werts des Sozialen‹ an sich.“ So müsste die Mitleidsökonomie auch in ihrem Zusammenhang zu Abbau und Delegitimierung des Wohlfahrtsstaates betrachtet werden, insgesamt sei sie jedoch nur ein Phänomen einer „mehrdimensionalen und komplexen Transformation des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements“. Die Beiträge des Sammelbandes unternehmen u.a. einen historischen Abriss, formulieren eine menschenrechtliche Kritik oder widmen sich Gewinninteressen bestimmter Formen der Mitleidsökonomie. Ebenso wird die Thematik unter den Vorzeichen der „Verzivilgesellschaftlichung“ sozialer Belange sowie des Community-Kapitalismus diskutiert oder aus affekt- bzw. emotionstheoretischer Perspektive betrachtet. In dieser Zusammenschau gelingt ein fundierter theoretischer und empirischer Einblick in eine Ökonomie, die auf (Mit)Leid basiert und sich im Schatten des Sozialstaats etabliert hat.