Globale Getreidemärkte
Technoliberalismus und gefährdete Existenzsicherung in Nordafrika
- Buch
- Jörg Gertel (Hrsg.)
- Transcript, 2023. - 311 Seiten
2022 ist die Ukraine mit dem russischen Angriff zum Kriegsschauplatz mit massiven globalen Konsequenzen geworden: Neben Fluchtbewegungen sind etwa auch die Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit im Globalen Süden von massiver Natur – kriegsbedingt sind die Produktionsmengen von Getreide in der Ukraine eingebrochen und Exporte nur unter schwierigen Bedingungen möglich. Ganz allgemein sind Rohstoffmärkte von globalen Verflechtungen gekennzeichnet, in denen handelnde (im wortwörtlichen Sinn) Akteur_innen oftmals viele tausende Kilometer voneinander entfernt sind und lokale Entscheidungen Auswirkungen auf eine globale Bevölkerung haben. Der vorliegende Sammelband „Globale Getreidemärkte“ beschäftigt sich mit diesem komplexen Gefüge von Marktmechanismen, Technoliberalismus, Ernährungssouveränität, Hungerkrisen und Existenzsicherung mit besonderem Augenmerk auf den nordafrikanischen Raum. Dabei finden sich auch einige historisch orientierte Beiträge, die etwa die Etablierung kolonialer Nahrungsregime und deren Kontinuitäten beleuchten oder die Herausbildung internationaler Getreidemärkte ab dem 19. Jahrhundert nachgezeichnen. In diesem Zusammenhang wird etwa auf Marktkonzentration, Spekulationen auf Preisbewegungen und den Beitrag des Getreidehandels zum Aufstieg des Finanzkapitalismus eingegangen, der für Überlegungen der Grundsicherung und Welternährung wenig übrig hat: „Marktakteure, die an der Preisbildung beteiligt sind, haben (…) meist kein soziales Anliegen. Die Auswirkungen der Preisentwicklung von Grundnahrungsmitteln auf die Gesellschaft, ihre Höhe und Volatilität, werden systematisch ausgeblendet; soziale Überlegungen werden gar als geschäftsschädigend wahrgenommen; es geht um Gewinnerzielung und Profite. Die Entsozialisierung von Austauschprozessen tritt mit der Digitalisierung und der Auflösung des Parketthandels in Chicago, New York sowie in London und Paris in eine neue Phase ein.“ Andere Beiträge wiederum beschäftigen sich mit der Bedeutung Frankreichs als „Getreidekammer“ für Nordafrika, mit der politischen Dimension von Getreide am Beispiel der Arabischen Revolution und ihrem Slogan „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ oder mit den Auswirkungen der Digitalisierung staatlicher Nahrungsversorgung in Ägypten. Insgesamt veranschaulicht der vorliegende Band die komplexen Zusammenhänge globaler (und globalisierter) Getreidemärkte, für welche polyzentrische Machkonfigurationen, Entgrenzungsphänomene und hohe Dynamiken kennzeichnend sind. Warenketten seien wiederum nicht fixiert und linear, sondern zunehmend Produkt temporärer Konstellationen von Akteur_innen, die sich sehr schnell ändern können. Während das verschiffte Getreide wochenlang auf dem Meer unterwegs sei, würden sich die Eigentumsverhältnisse und der Warenwert hingegen ständig ändern. Für öffentliche Institutionen seien globale Getreidemärkte und deren Technoliberalismus kaum mehr kontrollierbar: „Nahrungsunsicherheit in Nordafrika kann eben durchaus mit Sicherheit, Wachstum und Gewinnen etwa in Europa oder den USA einhergehen. Umgekehrt können Hunger und Nahrungsunsicherheit nicht mehr als auf einen Staat begrenzt und durch lokales Produktionsversagen verursacht gedacht werden. (…) Die vereinfachende Vorstellung, Hunger – in allen seinen Ausprägungen – sei darauf zu reduzieren, Orte zu identifizieren, wo Menschen leiden (..) ist entsprechend anzufechten. Es geht um Ursachen, Verantwortung und um Haftung. Hungerkrisen sind nicht auf einen Ort zu fixieren.“