Staatenlosigkeit
Eine moderne Geschichte
- Buch
- Siegelberg, Mira L.
- 2023
Zwar sei Staatenlosigkeit kein für das 20. Jahrhundert originäres Phänomen, doch sei diese zuvor nur gelegentlich zum Gegenstand rechtlicher Regelungen geworden und häufiger in fiktionalisierten Darstellungen vorgekommen, leitet Mira Siegelberg ihre Studie ein. Erst der Erste Weltkrieg und insbesondere seine Nachwirkungen (etwa der Zusammenbruch von Imperien und Monarchien) habe sie zur anerkannten Realität gemacht: Staatenlosigkeit war nun keine Ausnahme mehr, sondern ein Massenphänomen von dem Millionen betroffen waren. So stellten Fragen der Staatsbürgerschaft bei den Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn große Herausforderungen dar, die auch durch die Friedensverträge von Trianon und Versailles nicht eindeutig geklärt wurden. Zudem begannen Staaten, ihre Staatsbürgerschaft restriktiver zu konzipieren und Individuen diese entlang politischer, religiöser oder ethnischer Kriterien zu entziehen. Auf Grundlage umfangreicher Archivquellen und Nachlässe zeichnet die Verfasserin die Bedeutung von Staatenlosigkeit für das Denken über die (internationale) politische Ordnung des 20. Jahrhunderts nach. Dabei geht sie weitgehend chronologisch vor und konzentriert sich auf die Zwischenkriegszeit, die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit bis in die 1960er-Jahre. Ersichtlich wird in dieser Ideengeschichte, wie der junge Völkerbund das für seine Kompetenzansprüche bedrohliche Phänomen der Staatenlosigkeit adressierte, welche neuen Dimensionen Staatenlosigkeit im Kontext von Shoa, Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg erlangt und wie in der Nachkriegszeit von den Vereinten Nationen ein „Übereinkommen über die Rechtsstellung von Staatenlosen“ erzielt wurde. Siegelberg arbeitet dabei präzise die Konjunkturen von Staatenlosigkeit heraus und diskutiert zentrale institutionelle Quellen und Texte von Rechtswissenschaftler_innen, Philosoph_innen oder Politiker_innen wie Hans Kelsen, René Cassin oder Hannah Arendt, deren Überlegungen zur Abhängigkeit der Menschenrechte von der Zugehörigkeit zu einem Staat bzw. einer Rechtsgemeinschaft sie ein „Recht, Rechte zu haben“ fordern ließ. Solcherart behandelt „Staatenlosigkeit“ nicht nur die titelgebende Rechtskategorie, sondern setzt sich umfassend mit dem (menschen)rechtlichen Verhältnis von Individuum, Nationalstaat, Territorium, Souveränität und internationaler Gemeinschaft auseinander. Dabei wagt sie abschließend auch einen Ausblick in die absehbare Zukunft unter dem Vorzeichen des Klimawandels, der Vorstellungen moderner Staatlichkeit untergraben wird: „In der wahrscheinlichen und nicht so fernen Zukunft, wenn ganze Nationen – Mikronesien, die Malediven oder Tuvalu – im Meer versinken werden, wird die dortige Bevölkerung nach den derzeitigen Regelungen nicht den Schutz irgendeiner Regierung genießen. Daher wären diese Menschen de facto staatenlos. Staatsgrenzen brechen auf neue Weise zusammen (…).“