Direkt zum Inhalt wechseln

Die enteignete Generation


Jugend im Nahen Osten und in Nordafrika

Cover des Buches
  • Buch
  • Jörg Gertel et al. (Hrsg.)
  • Dietz, 2023. - 467 Seiten

Junge Menschen sind die zentralen Akteure einer Gestaltung der Zukunft. Insbesondere in der MENA-Region (Mittlerer Osten und Nordafrika) war ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung noch nie so hoch. Doch welches Selbstverständnis leben junge Menschen in der Region, welche Sorgen haben sie und wie blicken sie der Zukunft entgegen? Eine Studie der deutschen Friedrich Ebert-Stiftung in Kooperation mit lokalen Partnerorganisationen hatte bereits in den Jahren 2016/2017 insgesamt 9.000 Menschen zwischen 16 und 30 Jahren in 9 Ländern befragt, um auf diese Fragen repräsentative und empirisch fundierte Ergebnisse (veröffentlicht in „Zwischen Ungewissheit und Zuversicht“) zu erhalten. Diese Studie wurde 2021/2022 mit 12.000 mit jungen Menschen aus den Ländern Ägypten, Algerien, Irak, Jemen, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Palästina, Sudan, Syrien und Tunesien wiederholt. Gegenstand der Erhebungen waren sämtliche Lebensbereiche von der Wohnsituation über Bildung, Lebensstile und politische Partizipation bis zu familiären Verhältnissen. Die Ergebnisse der umfangreichen Studie werden dabei in übersichtlichen Kapiteln zu den einzelnen Bereichen zusammengefasst. Dabei sprechen die Studienautor_innen von einer „enteigneten Generation“ in dem Sinne, als ihnen egalitäre und angemessene Lebensumstände zunehmend verwehrt blieben. Zwar könne dieses Urteil nicht pauschal für jeden jungen Menschen in der Region gelten und auch an anderen Orten der Welt seien solche Ungleichheiten beobachtbar, doch lasse sich die Zuschreibung einer „enteignete Generation“ aufgrund der enormen Konzentration dieser Diskrepanzen und struktureller Enteignungsdynamiken argumentieren. Kurzfristige Hoffnungen auf Demokratisierung und verbesserte Lebensbedingungen nach dem Arabischen Frühling wurden rasch enttäuscht; Mit steigender Prekarisierung, Umweltdegradation und multiplen Krisenlagen wie die Covid-19-Pandemie, Ernährungsunsicherheiten oder gewaltsame Konflikte verbinden sich langfristige Enteignungsdynamiken mit kurzfristigen Problemlagen. Die Studienautor_innen resümieren insofern weit verbreitete Politikverdrossenheit und Desillusionierung, gleichzeitig sehen sie hohes Mobilisierungs- und Protestpotenzial bei bestimmten Themen. Auf Basis quantitativer wie qualitativer Daten erlaubt „Die enteignete Generation“ Einblicke in die Lebensrealitäten junger Menschen in der MENA-Region, fragt nach ihren Erwartungen an die staatlichen Institutionen, ihrer Einstellung zu gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitischen Themen, aber auch nach ganz individuellen Aspekten wie familiären Verhältnissen, Lebensentwürfen und persönlichen Orientierungen. Stets werden Ergebnisse differenziert diskutiert und im Kontext der jeweiligen Umstände erklärt, der Rückgriff auf die vorangegangene Studie ermöglicht dabei den vergleichenden Blick auf Veränderungen und Konstanten. Insgesamt zeichnet der vorliegende Band ein ambivalentes Bild einer Generation, welche kaum Vertrauen in staatliche Strukturen hat und mit existenziellen Nöten zu kämpfen hat, sich jedoch auch in hohem Ausmaß ehrenamtlich engagiert, Solidarität lebt und Hoffnungen formuliert.