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Der Tag, an dem die Sonne starb


Cover des Buches
  • Buch
  • Yan, Lianke
  • Matthes & Seitz, 2024. - 366 Seiten

Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. In „Der Tag, an dem die Sonne starb“ (2015 im chinesischen Original erstveröffentlicht) lässt Yan Lianke eine Dorfgemeinschaft im ländlichen China eine grauenvolle Nacht durchleben. Mit Einbruch der Dämmerung beginnen mehr und mehr der Bewohner_innen zu schlafwandeln und dabei luzide Träume auszuleben, die gewaltsame Verbrechen, Suizide und Eigentumsdelikte beinhalten: „So einfach ist es mit dem Traumwandeln. Die Vögel fliegen einem in den Kopf. Und bringen dort alles durcheinander. Im Traum tut man, was man will. Und nicht, was man tun soll.“ Als nach einer langen Nacht die Sonne nicht wieder aufgeht, liegt das Schicksal in der Hand eines Einzelnen.
Berichterstatter dieser Ereignisse ist der 14-jährige Li Niannian, dessen Familie ein Bestattungsunternehmen „Neue Welt“ betreibt, das sein Vater auch für Denunziation und krude Machenschaften nutzt: „Ich spreche für ein Dorf. Für eine kleine Stadt. Für ein Gebirge. Und für die ganze Welt. Hier im Angesicht des Himmels knie ich, um euch etwas zu erzählen. Ich hoffe, ihr könnt meinem Geplapper und Geschrei geduldig zuhören. Seid nachsichtig mit mir, seid großmütig. Denn ich will euch von einer Sache erzählen so hoch wie der Himmel und so weit wie die Erde.“ Metafiktional schreibt sich auch Yan Lianke in die Erzählung ein, erscheint er doch als eigentlich vorgesehener Chronist der Geschehnisse mit Schreibblockaden, dessen Buchtitel von Li Niannian zuverlässig verballhornt werden. Tatsächlich ist Yan Lianke ein international renommierter Autor, hat in China aufgrund satirischer Texte und öffentlicher Kritik jedoch auch Erfahrungen mit Zensur gemacht und gilt als umstritten. Seine Romane verarbeiten etwa Hungersnöte und die Ausbeutung der Landbevölkerung, die Kulturrevolution oder HIV-Infektionen bei Blutspenden aufgrund staatlichen Versagens.

Mit einem transzendentalen und mythischen Realismus imaginiert auch „Der Tag, an dem die Sonne starb“ Ereignisse, die allegorisch gelesen werden können: Die somnambulente Dorfgemeinschaft steht dabei provokant für die chinesische Gesellschaft in einem Zustand zwischen politischer Bewusstlosigkeit und moralischer Lethargie, die „Schlacht zwischen Vergangenheit und Zukunft“ für richtungsweisende Herausforderungen. Es stellt sich die Frage, was geschieht, wenn kollektive Ängste und verdrängte Schuldgefühle an die Oberfläche treten und unausgelebte Träume wahr werden. Nicht zuletzt arbeitet sich Yan Liankes Roman an Xi Jinpings Diktum des „Chinesischen Traums“ ab – und zeigt, dass die Grenzen von Traum und Albtraum nicht selten fließend sind.