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Der Kartograf des Vergessens


Cover des Buches
  • Buch
  • Couto, Mia
  • Unionsverlag, 2023. - 294 Seiten

Dieses Land hat ein kurzes Gedächtnis“, heißt es in „Der Kartograf des Vergessens“ an einer Stelle und tatsächlich verhandelt Mia Coutos Roman zentrale Fragen des gesellschaftlichen Erinnerns, Verdrängens und der Aufarbeitung. Das Land mit dem kurzen Gedächtnis ist Mosambik, in dieses kehrt der Protagonist Diogo Santiago 2019 im Kampf gegen Depressionen zurück: „In diesen Tagen bewege ich mich nun in den Orten meiner Kindheit wie durch einen Sumpf – äußerst behutsam. Ein falscher Schritt, und ich riskiere, in dunklen Abgründen zu versinken. Das ist meine Krankheit: Mir sind keine Erinnerungen geblieben, ich habe nur Träume. Ich bin Erfinder von Vergessenem.“ Während auf dem Indischen Ozean bereits der verheerende Zyklon Idai aufzieht und dem gefeierten Schriftsteller Santiago noch Ehren seiner Heimstadt Beira zuteil werden, spielt die junge Frau Liana Campos ihm alte Akten der Geheimpolizei PIDE zu. Diese geben Zeugnis von Santiagos Vater, der Gewaltverbrechen der portugiesischen Kolonialverwaltung veröffentlichen wollte und dafür aus dem Verkehr gezogen wird. Liana wiederum ist auf der Suche nach der Geschichte ihrer Mutter. Schnell entspinnt sich eine rasante Spurensuche in der Vergangenheit, in der familiäre Verstrickungen hohe politische Dimension haben und eben geglaubte Gewissheiten bei erstbester Gelegenheit Verrat begehen. Die Polizeiakten enthalten Befragungen, Vernehmungsprotokolle und Tagebuchnotizen, sie stammen zum Großteil aus dem Jahr 1973, als in Mosambik der blutige Kolonialkrieg tobt und das Salazar-Regime sich mit letzter Kraft an die wichtigen Überseekolonien klammert. Diese vielstimmigen Zeitdokumente berichten von einer rassifizierten Gesellschaft, dem kolonialen Befreiungskamp und widersprüchlichen politischen Akteur_innen, aber auch von verbotener Liebe, Missgunst, Idealismus und Humanität. Durch sie erlangt der Roman eine ästhetische Vielschichtigkeit und hält durch stilistische Formen – etwa des unzuverlässigen Erzählens – Deutungsoptionen offen. So bietet Couto wiederholt auch Interpretationsmöglichkeiten der Autofiktionalität an, ohne sie tatsächlich aufzulösen. Andere Fragmente bedienen sich eines magischen Realismus, der Grenzen von Fantasie, Erinnerung und Mythos einreißt. „Der Kartograf des Vergessens“ ist große Literatur und eine Vermessung des (post)kolonialen Mosambik und globaler Ungleichheit, in deren Kartenwerk mit der Vulnerabilität des Globalen Südens gegenüber der Klimakrise en passant auch globale Umweltgerechtigkeit verortet ist.