Ruanda 1994 bis heute
Vom Vorhof der Hölle zum Modell für Afrika – Wahrheit und Schein in Ruanda
- Buch
- Hankel, Gerd
- zu Klampen, 2024. - 174 Seiten
Während des Genozids in Ruanda von April bis Juli 1994 wurden bis zu einer Million Menschen (vorrangig der Tutsi-Minderheit) ermordet, die internationale Gemeinschaft versagte weitgehend. Drei Jahrzehnte später gilt Ruanda als wirtschaftlich prosperierendes und politisch stabiles Vorzeigeland in der Region, das die gesellschaftlichen Traumata aufgearbeitet und ethnische Konfliktlinien beiseitegelegt hat. Der Völkerrechtler Gerd Hankel porträtiert in der erweiterten Neuauflage seines Bandes das ostafrikanische Land hingegen weitaus differenzierter und kritischer: Auf 170 Seiten skizziert er die Historie Ruandas und geht auch auf die Vorgeschichte des Genozids ein, der Schwerpunkt liegt freilich auf der jüngeren Geschichte und interessiert sich neben den genozidalen Ereignissen vor allem für deren Aufarbeitung im Rahmen dörflicher Gacaca-Gerichtsbarkeit, die weitere Entwicklung des Landes und internationale Zusammenarbeit. Durchgängig interessiert sich Hankel dabei für die Kehrseite der sprichwörtlich glänzenden Medaille und diskutiert diese pointiert mit der Frage: „Wieviel Unrecht verträgt der Fortschritt?“ Zu den Schattenseiten des wirtschaftlichen Erfolges zählt er etwa staatliche Repression bis hin zur Liquidierung oppositioneller Akteure, autoritäre Tendenzen unter Langzeitpräsident Paul Kagame, die völkerrechtswidrige Beteiligung an bewaffneten Konflikten sowie schwere Menschenrechtskonflikte in der D.R. Kongo zum Zwecke illegaler Rohstoffausbeutung, fragwürdige Geschäfte mit China und Russland, aber auch aktuell mit Großbritannien – vgl. das als „Flüchtlingsdeal“ bekannte Abschiebegesetz, mit dem die britische Regierung künftig irregulär eingereiste Migrant_innen nach Ruanda abschieben will. In der medialen Berichterstattung sowie in der politischen Bewertung durch Staaten des Globalen Nordens würden diese Tatsachen hingegen weitgehend ausgeblendet, kritisiert Henkel den Umstand, dass der ostafrikanische Staat aufgrund des Genozids zumeist als „Opfer“ dargestellt würde. Dabei ließe sich auch differenzierter urteilen und insbesondere aus der rechtlichen Perspektive sei die Faktenlage zumeist nicht so diffus, wie gerne behauptet: „Muss nicht die abwägende Gegenüberstellung von Unrecht und Fortschritt in Ruanda untergehen in der Komplexität und Ambivalenz der Menschheitsgeschichte, die eine unentwirrbare Verkettung von Unrecht und Fortschritt darstellt? Nein, muss sie nicht. Weder ist das Verhältnis von Unrecht und Fortschritt unentwirrbar, noch ist die Menschheitsgeschichte durchgängig so uneindeutig, dass nicht ein Urteil über Recht und Unrecht möglich wäre.“ Auf Grundlage von eigenen Erfahrungen und Recherchen ermöglicht „Ruanda 1994 bis heute“ somit eine Darstellung, in der nicht bloß auf den erstaunlichen Aufstieg Ruandas fokussiert wird, sondern auch Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten benannt werden.