„Entwicklung“ als Paradigma
Reflexionen zu einer nachhaltigen internationalen Zusammenarbeit
- Buch
- Patrick Becker et al. (Hrsg.)
- Transcript, 2023. - 212 Seiten
„We must embark on a bold new program for making the benefits of our scientific advances and industrial progress available for the improvement and growth of underdeveloped areas“, zitieren die Herausgeber aus der Amtsantrittsrede des US-Präsidenten Harry S. Truman, um mit diesem Satz prägnant ein viele Jahrzehnte lang dominantes Verständnis von „Entwicklung“ zu illustrieren: Das westliche Entwicklungsparadigma basiert auf Entwicklung durch ständigem Wachstum und setzt darauf, Herausforderungen und Probleme durch technologischen Fortschritt zu überwinden. Dieses Paradigma war besonders im 20. Jahrhundert vorherrschend, manifestiert sich aber auch teilweise noch in rezenten entwicklungspolitischen Diskursen: So sind auch die nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der Vereinten Nationen von der Überzeugung geprägt, Armut mit Wirtschaftswachstum bekämpfen zu können. Klar ist freilich, dass dieses hegemoniale Entwicklungsparadigma ideologisch aufgeladen ist und wirkmächtige weltanschauliche Vorstellungen transportiert, die etwa kolonialen Ursprungs sind. Zusätzlich ist die inhärente Wachstumslogik nur zum Preis einer sich intensivierenden Ausbeutung von Mensch und Natur (vor allem zu Lasten des Globalen Südens) aufrechtzuerhalten. Insofern formieren sich – insbesondere in Ländern des Globalen Südens – seit einigen Jahren „politische widerständige Praxen und theoretische Reflexionen“ zum hegemonialen westlichen Entwicklungsparadigma, indem sie Alternativen entwickeln, koloniale Muster dekonstruieren oder indigenen Epistemologien Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Auch in Ländern des Globalen Nordens nimmt die Kritik an Wachstumslogik und Fortschrittsoptimismus zu, geäußert etwa durch breite sozial-ökologische Bewegungen. Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich mit Kritik und Alternativen zum Entwicklungsparadigma in unterschiedlichen Schlaglichtern. Dies geschieht in den zwei Abschnitten „Entwicklungsparadigmen gestern und heute“ und „Globale Entwicklungspraxen“. Im ersten Abschnitt zeichnet etwa ein Beitrag das vorherrschende Entwicklungsparadigma im historischen Verlauf nach und nimmt dessen koloniale Prägung, aber auch dessen Widersprüchlichkeiten und Zielkonflikte in den Fokus. Ein anderer Beitrag plädiert für die Überwindung nationaler Eigeninteressen und für eine ganzheitliche Perspektive, die langfristig denke und auch künftige Generationen sowie nicht-menschliches Leben berücksichtige. An anderer Stelle wird ein interkulturell-theologischer Blickwinkel eingenommen und über das Verhältnis von „Befreiung“ und „Entwicklung“ nachgedacht. Der zweite Abschnitt ist weniger theoretisch angelegt, sondern setzt sich mit konkreten Beispielen auseinander. Hier werden etwa lateinamerikanische Widerstandsbewegungen gegen Extraktivismen vorgestellt oder die Frage diskutiert, unter welchen Umständen und mit welchen Intentionen militärische Interventionen entwicklungspolitisch vertretbar sein können. Ein anderer Beitrag lehnt den Entwicklungsbegriff gänzlich ab und postuliert die Vision eines „Afrotopia“ (vgl. Felwine Sarr) mit einem neuen Selbstverständnis und emanzipatorischer Kraft. In dieser Zusammenstellung unterschiedlicher Beiträge, die teils auch aus dem Globalen Süden stammen, gelingt es, das hegemoniale Entwicklungsparadigma mittels unterschiedlicher Ansätze zu dekonstruieren und die Kritikpunkte des Post-Development verständlich zu machen: Das hegemoniale Entwicklungsparadigma reproduziert globale Ungleichheiten und ist nicht vom imperial-kolonialen Gedanken wie auch von der imperialen Lebensweise getrennt zu verstehen.