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Blicke auf die koloniale Schweiz


Ein Forschungsbericht

Cover des Buches
  • Buch
  • Kreis, Georg
  • Chronos, 2023. - 232 Seiten

In den letzten zwanzig Jahren hätte sich das öffentliche Interesse an einer Auseinandersetzung mit Kolonialismus und seinen fortwirkenden Konsequenzen langsam aufgebaut, die 2020er-Jahre ließen sich als „Kulminationsphase“ dieser Aufmerksamkeitskonjunktur beschreiben, leitet der Historiker Georg Kreis seinen Band zur kolonialen Vergangenheit der Schweiz ein. Zwar hätte es durchaus schon davor (und teilweise sehr früh) Einzelstimmen und Initiativen gegeben, die sich kritisch zur Materie geäußert hätten, mehrheitlich wäre jedoch Apathie und Verdrängung festzustellen gewesen. Dieser Umstand hängt nicht zuletzt mit einem lange Zeit hegemonialen Geschichtsbild zusammen, nach welchem die Schweiz aufgrund der nicht existenten formellen Beteiligung am Kolonialismus keinerlei Berührungspunkte und koloniale Identität besäße. Kreis dekonstruiert dieses Narrativ und weist auf die tatsächliche Verwobenheit der Schweiz mit kolonialen Logiken, Akteur_innen und Praktiken hin: „Die Schweiz erscheint in der Zeit des imperialen Kolonialismus als Sonderfall, weil sie keine formale Kolonialherrschaft ausübte und sich nur informell an ihr beteiligte. Doch bereits zur Blütezeit des Kolonialismus bestand eine große, transnationale Gemeinsamkeit zwischen der Schweiz und den Kolonialmächten (…) darin, dass private Kräfte in beiden Varianten, im formellen wie im informellen Kolonialismus, die Hauptakteure waren. Auch heute ist die Schweiz in der allgemein nachkolonialen Zeit ein Normalfall, weil sie wie die ehemaligen Kolonialmächte weiterhin Teil des ökonomisch überlegenen Nordens ist und die alten, in der Kolonialzeit wurzelnden Überlegenheitsvorstellungen tendenziell ebenfalls weiterhin in sich trägt.“ Sein Band ist eine übersichtliche und präzise Darstellung der Materie in zehn Kapiteln: Während zwei Kapitel zuerst umfassend in kolonialgeschichtliche Konjunkturen und in den Forschungsstand mitsamt zentraler Publikationen und Ereignisse einführen, widmen sich die darauffolgenden Kapitel unterschiedlichen Aspekten der schweizerischen Partizipation am Kolonialismus: Beachtung finden etwa die Missionstätigkeit in den Kolonien (insb. der „Basler Mission“), die Beteiligung an Sklaverei und Ausbeutung, schweizerische Söldner, Siedlungskolonien oder der „Ideenkolonialismus“ von Theoretiker_innen. Ein eigener Beitrag setzt sich mit der Frage auseinander, welche Verantwortung dem Schweizer Staat zukommt und inwieweit dieser als „kolonialer Akteur“ gelten könne. Hier erkennt Kreis eine lange Tradition staatlichen Desinteresses und resümiert kritisch: „Staatliche Verantwortung bemisst sich nicht einzig an aktiver Beteiligung, sondern auch am Zulassen privater Beteiligungen, die das schweizerische Staatsgebiet als Ausgangspunkt haben. Unter Berufung auf die in der Schweiz besonders hochgehaltene Handels- und Gewerbefreiheit sah sich die Schweiz und sieht sie sich auch heute noch nicht verantwortlich für das, was private Akteure mit schweizerischem Standort draußen in der Welt treiben.“ Ein letztes Kapitel befasst sich in anekdotischen Schlaglichtern mit diskursiven Ereignissen, die eine „postkolonial sensibilisierte“ Schweiz markieren. Insgesamt gelingt „Blicke auf die koloniale Schweiz“ eine fundierte Überblicksdarstellung des Forschungsgegenstandes, wobei nicht nur akademische Publikationen, sondern auch mediale Konjunkturen, gesellschaftlich markante Ereignisse und Kontroversen Eingang finden. Dabei wird deutlich, dass der bequeme Standpunkt einer von kolonialer Vergangenheit freien Schweiz längst erodiert ist und sich eine global verflochtene Gesellschaft nicht der Verantwortung und Selbstreflexion entziehen kann.